Interview

Interview mit Marlies Holitzka
 
Gemeinsam mit Ihrem Mann haben Sie ein Veränderungsspiel mit weiblichen Archetypen erschaffen, das Sie das E.V.A. - Projekt nennen. Was bedeutet der Titel und wie ist die Idee entstanden?

Das E.V.A.- Projekt ist eigentlich aus drei ganz unterschiedlichen Ideen zusammen geflossen. Mir schwebte ein Spiel vor, dass uns die ganze Vielfalt unserer Persönlichkeit vor Augen führt. Jeder kennt ja die zwei und noch viel mehr „Seelen“ in seiner Brust, die ganz widersprüchliche Gefühle und Gedanken haben und völlig unterschiedliche Absichten und Ziele verfolgen können. Unsere verschiedenen Persönlichkeitsanteile schaffen häufig lästige Komplikationen. Dann fühlt man sich Hin- und Hergerissen, was nicht selten zu Entschlusslosigkeit bis hin zu völliger Lähmung führt. Oder wir wundern uns über unser Verhalten und verstehen uns selbst nicht mehr. Wer dagegen seine inneren Anteile kennt und als Ober-Ich ein gut eingespieltes inneres Team aus ihnen macht, verfügt über eine kraftvolle Quelle für inneren Frieden, Klarheit und ein sicheres Auftreten in der äußeren Welt. In meiner langjährigen Praxis als Coach und Aufstellerin ist mir immer wieder aufgefallen, dass wir Menschen die ganze Bandbreite unseres Innenlebens nur selten bewusst wahrnehmen und in Krisensituationen völlig aus den Augen verlieren. Dann sind wir nur noch die verletzte Partnerin oder das innere Kind, das sich nicht zu helfen weiß. Die lebenserfahrene, erwachsene Frau, die erfolgreiche Berufstätige oder die zornige Rebellin, die es ja auch noch gibt, stehen uns dann nicht zur Verfügung. Bringt man sie als innere Ressourcen aber ganz bewusst mit ins Spiel, lässt sich jede Situation viel souveräner meistern, weil wir dann kraftvoll handeln und viel stimmiger kommunizieren können.
Mein Mann arbeitete zur gleichen Zeit an einer Serie von Frauenportraits, in denen er seine alte Liebe zur altmeisterlichen Ölmalerei mit seiner Begeisterung für neue Medien, im Besonderen den Photoshop, verband. Und wir beide beschäftigen uns schon seit längerem mit der Geschichte unserer menschlichen Entwicklung und ihren jeweiligen Mythen, die dann das Weltbild bestimmen. Für unsere Zeit ist der Mythos von Adam und der angeblich aus seiner Rippe entstandenen sündigen Eva für das Bild der Frau zur beherrschenden Metapher geworden. Die Jahrtausende davor, in denen Mutter Natur als Große Göttin verehrt und ihre Töchter, wir Frauen, mit ihren Bedürfnissen und Werten die Gemeinschaft maßgeblich beeinflussten, ist dagegen fast aus unserem Bewusstsein verschwunden. Im Laufe der Arbeit an dem E.V.A. - Projekt sind diese drei Gebiete dann miteinander verschmolzen. Und so steht E.V.A. sowohl für Einzigartig Viele Anteile, die übrigens auch den Persönlichkeitsaufbau der Männer prägen, als auch für ein Bewusstsein, in dem wir Frauen uns aus den viel zu engen Zuschreibungen als Töchter, Geliebte, Mütter und Berufstätige befreien und neu erfinden.

Die 36 Karten, auf denen ausschließlich Frauen zu sehen sind, sind ausdrucksstark und wecken verschiedenste Gefühle beim Betrachter. Wofür stehen die Figuren?

Man könnte sagen: Die Karten beantworten die BestsellerFrage „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“. Allerdings nicht theoretisch, sondern als spannendes und sehr individuelles Schauspiel auf der Bühne des eigenen Lebens. In den Karten spiegeln sich die unterschiedlichsten Facetten unserer Persönlichkeit wieder, wie sie uns Tag für Tag begegnen. Da sind einmal so unterschiedliche soziale Rollen wie Partnerin, Mutter, Tochter, Freundin oder Berufstätige, die wir im Laufe des Tages einnehmen, und die ja jeweils ein anderes Verhalten fordern. Andere Karten personifizieren unsere menschlichen Grundgefühle wie Freude, Angst, Wut oder Trauer und wieder andere stehen für archetypische Figuren wie Königin, Abenteuerin oder die weise Frau in uns. Alle zusammen bilden sie mit ihren oft widersprüchlichen Bedürfnissen und Gefühlen, mit ihren Stärken und Schattenseiten das ab, was wir unsere Persönlichkeit nennen.

Wie können Frauen das Spiel mit den Karten ganz konkret anwenden?

Im Buch zu den Karten gibt es eine Fülle von Anregungen, wie man die Karten spielerisch für mehr Selbsterkenntnis und neues Verhaltens nutzen kann. Das reicht vom Orakeln und Legen wie man es vom Tarot kennt, über ein ganz bewusst zusammen gestelltes Ressourcenteam der inneren Anteile, um schwierige Situationen zu bewältigen, bis hin zum Aufstellen der Anteile und ihren äußeren Mitspielern wie man es aus Familienaufstellungen kennt. Als ich einigen Frauen die Karten in die Hand drückte und sie bat ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen, war ich überrascht, was ihnen alles einfiel und wie selbstverständlich sie die Karten für mehr Selbsterkenntnis und neue Handlungsimpulse nutzten. Einige Frauen nutzen sie um ihr Verhalten besser zu verstehen und um festgefahrene Situationen wieder in Bewegung zu bringen. Andere beleuchteten damit berufliche oder partnerschaftliche Fragen. Einige nutzten die Karten für einen vergnüglichen Abend mit Freundinnen und wählten beispielsweise ganz bewusst die Anteile aus, die sie aneinander schätzen und lieben. Ich habe da ganz rührende und bewegende Geschichten gehört. Und nicht zu unterschätzen ist die Möglichkeit, die inneren Anteile aufzustellen und sozusagen einen Blick von außen auf das innere Geschehen zu werfen. Denn von außen sieht man ja so manches klarer, als wenn man mitten drin steckt.   Die Karten scheinen ein zutiefst in uns angelegtes Wissen zu aktivieren und Brücken zwischen unserem unbewussten und bewussten, unseren irdischen und universell ausgerichteten Anteilen zu bauen. Und weil Bilder die Sprache der Seele sind und auch viel länger im Gedächtnis hängen bleiben als das geschriebene oder gesprochene Wort, kann sich ihre Wirkung nachhaltig entfalten.

Welche Chancen zur Veränderung ergeben sich daraus?

Wer sich selbst mit all seinen Stärken, Schwächen und Schattenanteilen kennt, lebt glücklicher und kommt mit sich selbst und seinen Mitmenschen besser klar, das ist ein Ergebnis der noch recht jungen Glücksforschung. Einige unserer Persönlichkeitsanteile schätzen wir und leben sie lustvoll aus, andere verdrängen wir lieber ins Schattenreich, weil wir uns für sie schämen und wieder andere haben wir noch gar nicht kennen gelernt und sie konnten sich deshalb nicht entfalten. Aber als Potential, auch wenn uns das nicht bewusst ist, tragen wir viele Facetten, archetypische Figuren und Rollen in uns, die nur darauf warten ins Spiel des Lebens integriert zu werden. Vielen Frauen identifizieren sich beispielsweise mit dem hilflosen Kind in sich und es wird zur beherrschenden Hauptrolle ihres Lebens. Die Karten machen schnell klar, dass das innere Kind nur ein Teil unserer Persönlichkeit ist.
Mit der Unterstützung anderer Persönlichkeitsanteile wie beispielsweise der inneren Heilerin oder unserem Gesunden Selbst - sie sind sozusagen die großen Schwestern des inneren Kindes – kann es sich viel sicherer und geborgener fühlen und verliert seine lähmende Wirkung auf unser Leben. Ich bin ja eine große Anhängerin der Hilfe zur Selbsthilfe und dafür eigenen sich die Karten und die Geschichten, die sie über uns selbst erzählen, hervorragend.

Können Sie ein Beispiel nennen, in welcher Lebenssituation die Karten für Sie eine wertvolle Hilfe waren und welche Karte sie dabei besonders berührt und unterstützt hat?

Oh, da fallen mir einige Beispiele ein. Aber das eindrücklichste war vielleicht ein Erlebnis ganz am Anfang des E.V.A.- Projektes als die Idee noch gar nicht ausgereift war. Es war einer dieser Tage, an denen Selbstzweifel, Existenzangst und ein diffuses Unbehagen meine Gedanken beherrschten und ich mich meinen Ängsten hilflos ausgeliefert fühlte. Ich tigerte unruhig durchs Haus, als mein Blick auf den Entwurf der Karte „Königin“ fiel und mich daran erinnerten, dass es auch Stunden und Tage gab, an denen ich mich wie eine Königin fühlte und mit Ängsten und Problemen ganz anders umging, nämlich selbstbewusst und mit klarem Blick für das Machbare. Noch während ich das dachte, strafften sich meine Schultern und ich richtete mich kerzengerade auf. Die Königin in mir hatte die Hauptrolle übernommen und die Ängstliche mit ihrer Omnipräsenz rückte in den Hintergrund. Natürlich kennt auch die Königin Krisenzeiten und hat mit Ängsten und Selbstzweifel zu kämpfen, doch im Gegensatz zur Ängstlichen ist sie diesen Gefühlen nicht ausgeliefert. Für die Königin sind die Zweifelnde und die Ängstliche nur zwei Bewohnerinnen ihres Reiches und sie begreift sie eher als Mahner oder auch Querulanten, die sie zwar wichtig nimmt, aber nicht als zentrale Figuren in den Mittelpunkt rückt. Für mich war das ein Schlüsselerlebnis, weil ich begriff, dass die Karten tatsächlich meinen Zustand beeinflussen konnten, indem sie meine Aufmerksamkeit auf einen Teil lenkten, den ich gerade aus den Augen verloren hatte, obwohl ich den gerade jetzt gut gebrauchen konnte.

Sie selbst sind Expertin für systemische Aufstellungen. Inwiefern lassen Sie Ihre Erfahrungen aus der systemischen Arbeit in das E.V.A. - Projekt mit einfließen?

Ich leite ja nicht nur Aufstellungen, sondern arbeite auch als NLP Trainerin und im NLP (Neurolinguistisches Programmieren) ist das Denkmodell der inneren Anteile ein wichtiger Bestandteil, um sein Verhalten zu verstehen bzw. neue, nützliche Teile zu kreieren, um seine Ziele besser verwirklichen zu können. Das ist eine bewährte, äußerst wirkungsvolle Methode und macht außerdem großen Spaß. Meine Erfahrungen und mein Wissen aus NLP und der systemischen Arbeit sind untrennbar mit dem E.V.A. - Projekt verbunden. Der  systemische Ansatz ist vor allen Dingen in die Idee eingeflossen, die Karten wie in einer Familienaufstellung zueinander in Beziehung zu stellen. Erstaunlicherweise treten sie dadurch wirklich miteinander in Aktion und werden gewissermaßen lebendig. Und je nachdem, ob sie nahe beieinander oder weit auseinander, im Kreis oder hintereinander, einzeln oder in Gruppen stehen, lösen sie ganz unterschiedliche Gefühle und Reaktionen aus. Ich habe das gar nicht erwartet und war sehr überrascht wie lebendig und aufschlussreich ein paar Karten werden, wenn man sie miteinander agieren lässt. Das schönste aber ist, dass man als Ober-Ich die Figuren umstellen, in andere Konstellationen und ganz allgemein in Bewegung bringen kann. Man kann sozusagen probeweise ausprobieren, wie sich diese oder jene Kombination aus Anteilen anfühlt und wie sich dadurch eine Situation verändert und entwickelt.

Wie sieht die gemeinsame Arbeit mit ihrem Mann aus? Erklären Sie ihm, wie er als Künstler die Karten mit den Frauenabbildungen gestalten soll oder entwickeln Sie die Ideen zusammen?

In den vierzig Jahren unseres Zusammenlebens und –arbeitens habe ich mich in seine Arbeit als Maler nie eingemischt, außer dass ich sagte gefällt mir oder eben auch nicht. Ob er meine Kritik und Anregungen dann aufgreift oder nicht, blieb immer seine Sache. Dieses Mal lief das ganz anders ab, schließlich ging es um Weiblichkeit für die ich, ganz einfach durch mein Geschlecht, die Fachfrau war. Doch zunächst werkelte jeder vor sich hin. Ich sagte ja bereits, dass viele Frauengestalten schon existierten, bevor unsere Ideen zusammenflossen und diese Frauenbilder passte er jetzt den inneren Anteilen an. Und mir wurde klar, dass der männliche Blick auf Weiblichkeit ein ganz anderer ist, als wie Frauen sich selbst sehen. Ich glaube, wir haben uns im ganzen Leben noch nie über ein Thema so ausgiebig und herzhaft gestritten wie über diese Frauenbilder. Gleichzeitig wurde uns beiden klar, wie tief die Klischees unserer Gesellschaft sitzen und wie sehr auch wir beide von dem Adam und Eva Mythos geprägt sind. Aber um ihre Frage zu beantworten, ja, diese Bilder haben wir gemeinsam entwickelt, wobei er die Hauptarbeit leistete und ich eher für die Feinheiten zuständig war. 

Ihr Mann hat sich künstlerisch sehr stark mit den weiblichen Archetypen auseinandergesetzt. Inwiefern hat ihn das in seiner Entwicklung beeinflusst?

Diese Frage müsste eigentlich er beantworten, ich kann ja nur von außen beurteilen, wie ihn das beeinflusst hat. Aber schon als ich ihn kennen lernte, setzte er sich intensiv mit dem Archetyp von C. G. Jungs Anima auseinander und in den letzten Jahren hat sich sein Interesse an diesem Thema noch vertieft. Um ehrlich zu sein, verdanke ich ihm in historischer, psychologischer, seelischer und mythologischer Hinsicht viele Anregungen und Einsichten in die Rolle von Mann und Frau in unserer Gesellschaft. Ich allein hätte mich damit nie so intensiv beschäftigt. Ich glaube das E.V.A.- Projekt wurde ihm auch deshalb zu einer Herzensangelegenheit, weil es ihm die Gelegenheit gab, sich intensiv mit seinen eigenen weiblichen Anteilen auseinander zu setzen, was ihm das Gefühl gab, sich seiner Ganzheit zu nähern. Es hat ihn, und dadurch auch mich, dazu inspiriert die althergebrachte Dualität von männlich-weiblich zu überdenken und zu hinterfragen. Aber vielleicht lese ich Ihnen einfach mal vor, was er selbst darüber geschrieben hat:
Mit Erleichterung erkenne ich, dass EVA nicht der Klon aus Adams Rippe ist, wie selbstherrliche Männerphantasien in der Schöpfungsgeschichte behaupten, sondern sie steht für den Urgrund, für mein ursprüngliches Wesen. Bevor ich Mann wurde, war ich längst weibliche, kosmische Lebensenergie. Sie ist es, die mich hervorgebracht hat, die mich schützt, heilt, nährt, tröstet, ermuntert und inspiriert. Und in der Liebe zur Frau als Partnerin, kehre ich ganz zurück in den Schoß der Glückseligkeit. Sich diesem Glück als Mann ganz öffnen zu können, empfinde ich als größte Bereicherung meiner bisherigen als Mann geprägten Existenz. Das Resultat ist eine Integration des weiblich-männlichen zu einem Selbstbild und Selbstverständnis als Mensch, jenseits aller Klischees von männlich und weiblich. So wird aus Unterschied und Abstand, Einheit und Nähe. Für mich eine existenzielle Erfahrung. Das „ewig weibliche“ in mir wird zum realen Lebensraum um mit Sophias Weisheit zu fließen und alte fest gefügte Strukturen aufzulösen. Ich habe diesen Entwicklungsprozess als Selbstkultivierung erlebt. EVA wurde mir zum Symbol. In ihrer Nacktheit weist sie mich auf meinen nackten Kern hin, auf mein ursprüngliches„gesundes Selbst“.
A V E – E V A

Verfolgen Sie mit der Entwicklung der Karten ein höheres Ziel?

Ich habe sinngemäß einmal den Satz gelesen: Fürs Vaterland erobert und stirbt man, im Mutterland nährst du das Leben. Im Vaterland gilt der Satz „Macht euch die Erde untertan“ und die irrsinnigen Folgen dieser Lebenshaltung können wir in nahezu allen Lebensbereichen sehen. Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn Frauen und Männer in einem Mutterland leben? Um das heraus zu finden, braucht`s selbstbewusste Frauen, die ihre eigenen Werte finden, leben und weitergeben. Wenn das E.V.A. - Projekt auch nur einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, wäre das wunderbar.